In deutschen Medien findet sich praktisch kein gutes Wort über Tony Blair. Er hat aber auch alles falsch gemacht, was man - aus Sicht deutscher Journalisten - nur falsch machen kann:
- er unterstützt die Irak-Politik von Georg Bush;
- er weist Medien falsche Behauptungen nach;
- er legt sich mit einem öffentlich-rechtlichen Medium (BBC) an.
Jeder dieser Fehler reicht für sich allein schon zur medialen Hinrichtung - aber mit der Kombination aller drei Fehler ist der Gipfel der Aufsässigkeit erreicht, der eine sofortige, kompromißlose Bestrafung erfordert.
Auftritt: der SPIEGEL. Nun wird man ja vom SPIEGEL nicht gerade verwöhnt, wenn man auf der Suche nach ausgewogenem, sachlich fundiertem Journalismus ist. Was sich allerdings Michael Sontheimer im Beitrag "DIE PROPAGANDATRICKS DES TONY B. - Ein Premier in Kriegsgefangenschaft" leistet, markiert einen neuen Tiefpunkt des Kampagnenjournalismus.
Auszüge:
Der britische Premier diente sich in Washington als engster Verbündeter im Krieg gegen den Terror und gegen Saddam Hussein an. Nun ist er gefangen in einem selbstgestrickten Netz aus Lügen und Übertreibungen. ... Die Untersuchung Lord Huttons offenbarte zahlreiche neue Details darüber, wie der Premier und seine Mitarbeiter die von Saddam Hussein ausgehende Gefahr aufgebauscht hatten, um die Briten in den Krieg zu treiben. ... Der übervorsichtige Taktiker mutierte zum Überzeugungstäter. In al-Qaida und ihren Unterstützern erkannte der praktizierende Christ das Böse schlechthin und begriff es als seine Berufung, dieses Böse zu bekämpfen. Aus dem für britische Verhältnisse überzeugten Europäer wurde ein glühender Pro-Amerikaner, der bedingungsloser einer US-Regierung folgte als jemals ein britischer Premierminister zuvor. ... Zwar ist seit der Aussage der Witwe Kellys klar, dass sich ihr Mann vor seinem Freitod vom Verteidigungsministerium verkauft und verraten fühlte, doch sein tragischer Tod ist nur ein Kollateralschaden in Blairs Kampf gegen das Böse. ... Blairs "große Lüge" besteht nicht nur für den einflussreichen "Guardian"-Kolumnisten Hugo Young darin, dass er fortwährend erklärte, das eigene Land sei "unmittelbar" von Saddam Hussein bedroht und der Krieg deshalb "unvermeidbar" - wenn nicht gleich die Schuld der unverantwortlichen Franzosen.
Der Beitrag Sontheimers erscheint ziemlich termingerecht zum 2. Jahrestag des 11. September 2001. Die Halbwertzeit der Erinnerung von SPIEGEL-Mitarbeitern ist offensichtlich deutlich kürzer als zwei Jahre - anders läßt sich der ironisch-belustigte Unterton bei der Schilderung der Gefahren von al-Qaida nicht verstehen. Was anderes ist al-Qaida als "das Böse schlechthin" - eine von uns irgendwie mißverstandene Gruppe von (vielleicht gelegentlich übereifrigen) Globalisierungskritikern? Jetzt warten wir darauf, daß der SPIEGEL den "Friedenspreis des deutschen Buchhandels" für Bin Laden fordert.
Die Untersuchungen von Lord Hutton, auf die sich Sontheimer bezieht, sind noch nicht beendet. "Lügen" von Tony Blair sind bislang nicht entdeckt und von seriösen Quellen auch nicht behauptet worden. Wenn die Hutton-Kommission bislang irgend etwas an's Tageslicht brachte, dann ist es die Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht der BBC.
Ein typische kampagnenjournalistischer Trick ist die Zitierung des "einflußreichen Guardian-Kolumnisten Hugo Young". Der Guardian führt - ähnlich wie der SPIEGEL, aber journalistisch in einer anderen Liga spielend - einen medialen Dauerk(r)ampf gegen Tony Blair.
Schamlos ist die Behauptung Sontheimers, der Freitod Kellys sein ein "Kollateralschaden in Blairs Kampf gegen das Böse". Niemand konnte ahnen, daß Kelly die Belastung durch die öffentliche Diskussion über seine Gespräche mit einem BBC-Reporter zum Anlaß für Selbstmord nehmen würde. Allein die in der Formulierung enthaltene Unterstellung einer Hinnahme des Selbstmordes von Kelly durch Blair als Folge seines Kampfes "gegen das Böse" ist eine Zumutung, die selbst für den SPIEGEL ungewöhnlich ist.
Und natürlich fällt Sontheimer nichts zu den Verbrechen des Schlächters Saddam ein, allein schon derentwegen sich der Irak-Krieg rechtfertigen läßt. Dabei bräuchte er doch nur in früheren SPIEGEL-Beiträgen nachzuschauen...
Sontheimer war übrigens 1979 Gründungsmitglied der 'TAZ‘, arbeitete für die Hamburger 'ZEIT‘, kehrte 1992 zur TAZ zurück und war bis 1994 deren Chefredakteur. TAZ - ZEIT - TAZ - SPIEGEL: naja, von der politischen Geographie vielleicht etwas einseitig - aber kann das als Begründung für grottenschlechten Kampagnenjournalismus dienen? Obwohl, andererseits, ...
Nachtrag: Die Jungs von al-Qaida hatten wohl wieder mal etwas ausgeknobelt... Vielleicht hätten sie Tel Aviv oder Jerusalem platt gemacht, wenn man sie gelassen hätte. Vielleicht machen sie's ja auch noch. Aber Sontheimer würde selbst dann gewiß noch davor warnen, in al-Qaida "das Böse schlechthin" zu sehen.
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